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Dharma Praxis

von
Zentatsu Richard Baker Roshi

Als allgemeiner buddhistischer Begriff bezeichnet ´Dharma' die Lehre des Buddha, ethische Grundsätze und die Wahrheit. Man könnte den Buddhismus fast ebenso gut ´Dharmismus' nennen. Auch ´Buddhadharma' ist eine Bezeichnung für diese Lehre. Buddha bedeutet Jemand, der erwacht ist'. Erwacht in Bezug auf was? Erwacht in Bezug auf den Dharma – die Wahrheit. Dinge so, wie sie wirklich sind wahrzunehmen. Alles so, wie es ist.

Wie erwachen wir? Indem wir den Dharma ausüben.Wie üben wir den Dharma aus? Indem wir erwachen.

Die Unveränderlichkeit in der Erfahrung in einer sich ständig ändernden Welt

,Dharma' hat in Sanskrit die Wurzel ,dhr' mit der Bedeutung ,halten'. Die erfahrungsmäßig-philosophische Bedeutung für die Zen-buddhistische Praxis ist das, was hält und unterstützt' und das, was sich nicht verändert'. Im Rahmen einer Lehre, die auf der Erkenntnis und Erfahrung aufbaut, dass sich alles verändert, müssen wir erkennen, was für einen Augenblick erhalten bleibt und auch was sich nicht verändert - was zumindest als unveränderlich erfahren werden kann.

Die grundlegendsten Lehren des Buddhismus sind die ´Vier Edlen Wahrheiten'. Dies sind die Wahrheiten, die uns vom Leiden befreien, indem sie uns erkennen lassen, auf welche Weise die Dinge tatsächlich existieren. Freiheit von Leiden hat im Buddhismus die Bedeutung der Freiheit von existentiellem Leiden. Das bedeutet nicht, von körperlichem Schmerz frei zu sein - obwohl die Praxis unsere Beziehung zu Schmerzen wohltuend verändert. Es bedeutet auch nicht notwendigerweise, von neurotischem Leiden frei zu sein. Aber wenn wir von existenziellem Leiden frei sind, wird uns das dabei helfen, das neurotische Leiden zu beenden. Natürlich helfen gegen das neurotische Leiden auch Freundschaft, Psychotherapie und so weiter. 

Wenn wir verstehen, dass die Hauptursache des Leidens (des Leidens am Sein selbst) eine Unwissenheit in Bezug auf die tatsächliche Existenzweise der Dinge ist, dann steht es uns frei, die Existenzweise der Dinge zu untersuchen und zu verwirklichen. In dieser freien Wahl liegt der Weg des Buddhismus. Dogen, ein japanischer Zen-Meister aus dem 13. Jahrhundert, schrieb in seinem Werk Genjo Koan: "Wenn alle Dinge der Buddhadharma sind, gibt es Verblendung und Verwirklichung, Praxis, Geburt und Tod, Buddhas und fühlende Wesen." Dogen meint damit, dass wir, wenn wir "alle Dinge" (und zwar jedes für sich) als den Dharma erkennen, die Wahl zwischen Erleuchtung und Verblendung haben. 

Die Freiheit der Entscheidung die Welt so zu sehen, wie sie tatsächlich ist

Ein Pfad ist eine Wahl, die uns führt. Er ist niemals etwas Verallgemeinertes; eine Wahl beinhaltet immer eine individuelle Beteiligung.Unser Leben beruht auf individuellen Besonderheiten. Die Wahl mag vielleicht nicht offensichtlich sein, vielleicht ist es eine Wahl ohne Auswahlmöglichkeiten, ein torloses Tor (wie wir im Zen sagen), aber dies zu wissen und dementsprechend zu handeln, stellt auch eine Wahl dar. Es ist wiederum Dogen der sagt: "Im Kommen und Gehen von Geburt und Tod treiben gewöhnliche Menschen dahin; dennoch finden genau dort auch große Weise Befreiung." Er meint damit, dass Große Weise das Kommen und Gehen von Geburt und Tod als ein Dharma-Tor erkennen.

Wenn wir die Wahl treffen zur tatsächlichen Existenzweise der Dinge zu erwachen, ist das ein Dharma-Tor. Wenn wir von dieser Wahlmöglichkeit nichts wissen und uns in Samsara treiben lassen, ist das ein Samsara-Tor. (Eine mögliche Bedeutung des Wortes ´Samsara' ist: Ohne Weisheit in der Welt von Geburt und Tod umherzutreiben.) Sogar wenn man umhertreibt, ist jeder Augenblick gleichzeitig sowohl Dharma- wie auch Samsara-Tor. Ich mag die im Wort ´trivia' verborgene Weisheit: Drei Wege (tri-via). Jede kleine Sache stellt eine Wahl dar, einen Weg, der sich teilt. Eine der Drei Zufluchten, die man nimmt, wenn man formell Buddhist wird, lautet: "Die Dharma-Tore sind zahllos; ich gelobe, in sie einzutreten."

Wir treffen ständig eine Wahl. Auswählen stellt eine Art von Veränderung dar. Jede Wahrnehmung, jedes Erkennen ist eine implizierte Wahl. Normalerweise eine gewohnheitsmäßige, oft eine von Täuschung bestimmte. Ein Dharma ist eine implizite Wahl, die bewusst oder weise getroffen wird. Das ist möglich, weil jeder Augenblick eine präzise geistige und körperliche Handlung ist oder sein kann. Ein Dharma erscheint aufgrund einer Wahl. Er ist eine Möglichkeit, der Welt Gestalt zu geben, unserer Erfahrung im Einklang mit der tatsächlichen Existenzweise der Dinge Gestalt zu geben.

 Ein Dharma besteht darin, jeden Augenblick als die Konvergenz von Zeit und Ort zu erkennen

Ein Dharma wird als der Ort jedes Dinges, als die Zeit, als das Entstehen, als das In-die-Gegenwart-treten jedes Dinges erfahren. (Der Ausdruck "Ding" erscheint vielleicht etwas unbestimmt, aber zumindest Teile seiner Definition sind zutreffend: "Ein Gebilde, eine Vorstellung oder eine Eigenschaft, die als eigenständig existierend erfahren, erkannt oder angenommen wird. Ein Objekt, das nicht genauer benannt werden kann. Eine Handlung, eine Tat.") Ein Dharma besteht darin, jeden Augenblick als die Konvergenz von Zeit und Ort zu erkennen. Eigentlich entstehen Zeit und Ort/Raum (in uns und durch alle Dinge) aus der Verwirklichung der Anpassung jedes Augenblicks.

Wie finden wir einen Zugang zu dieser Praxis der Konvergenz von ´allem' in den ´Besonderheiten'? An was können wir uns halten in einer Welt, in der sich alles verändert? Wenn wir genügend Erfahrung mit dem Dharma haben, um Vertrauen in seine Wahrheit zu haben, halten wir uns an seine Lehren und Übungen. Wenn wir durch Verwirklichung und/oder Meditation die nicht-verweilende, selbst-reinigende Grundlage des Geistes (das, was wir Ursprünglicher Geist nennen) kennenlernen, wird diese zum Hintergrund und zur Bedingung von aller Veränderung. Mein Lehrer Suzuki- Roshi sagte: "Alles, was wir sehen, verändert sich, verliert sein Gleichgewicht. Der Grund dafür, dass alles schön aussieht ist, dass es aus dem Gleichgewicht geraten ist, während der Hintergrund sich immer in vollkommener Harmonie befindet. Auf diese Weise existiert alles im Bereich der Buddha-Natur: sein Gleichgewicht verlierend vor einem Hintergrund vollkommenen Gleichgewichts."

Was sich als ´unveränderlich' erfahren lässt, ist die Immanenz des Ursprünglichen Geistes, Leerheit als Raum und Zeitlosigkeit als Zwischenraum oder Pause in der Zeit. Durch Meditation und Achtsamkeit gelangen wir dazu, den Raum, die Leerheit, die Zeitlosigkeit und den ursprünglichen Geist als die Bedingung für alles (und von allem) was erscheint, zu begreifen. Der Raum wird manchmal Firmament genannt: das, was die Sterne an ihrem Platz, was sie im Raum hält. Meditation und Achtsamkeit sind Übungen, die einen Geist entwickeln, der in den Dingen und in sich selbst verweilt und ruht und der deswegen in der Lage ist, den ursprünglichen Geist, Leerheit und Zeitlosigkeit zu erkennen und direkt zu erfahren. Dies steht im Gegensatz zu unserem gewöhnlichen Geist, der sich ständig verändert und der oft ruhelos oder abgelenkt ist.

 

Ursprünglich bezeichnete der Begriff Dharma eine Atom-ähnliche Einheit, die nicht weiter geteilt werden kann. Später kam man aber zu der Auffassung, dass sich alles weiter teilen lässt, bis hin zu einem Raum, der untrennbar von seiner Teilbarkeit ist, einem Raum, der seinen Unterteilungen innewohnt. Dies findet Ausdruck in dem Satz: ´Form ist Leerheit, Leerheit ist Form.'

 Obwohl wir leiden, kann es eine Freiheit im Leiden geben

In Bezug auf die Praxis bekam "Dharma" die Bedeutung "letztendlicher Bestandteil" : Das, was für einen Augenblick Bestand hat. Das, was sich nicht verändert und das, was zur Wahrheit führt. Dharma-Praxis heißt, erfahrungsmäßig die grundlegenden (sowohl materiellen wie nicht materiellen) Bestandteile von Geist, Körper und Erscheinungen zu erkennen - die Bestandteile der tatsächlichen Existenzweise der Dinge.

Dass eine "Kenntnis der grundlegenden Bestandteile der Existenz" zur Befreiung vom Leiden führen kann, ist eine außergewöhnliche Vorstellung: obwohl wir leiden, kann es eine Freiheit im Leiden geben. Auch die Schlussfolgerungen, die sich aus dieser Vorstellung von "Befreiung durch Kenntnis der grundlegenden Bestandteile" ergeben, sind außergewöhnlich. Es bedeutet nämlich, dass sich die Wahrheit immer direkt vor uns befindet, weil die Dharmas, die grundlegenden Bestandteile, immer gegenwärtig sind - notwendigerweise. Das heißt, dass die Freiheit vom Leiden immer hier ist. Es bedeutet, dass die Erleuchtung eine Bedingung der tatsächlichen, wirklichen Existenzweise der Dinge ist. Daher ist die Erleuchtung immer hier, wenn uns gegenwärtig ist, wie die Dinge genau jetzt existieren, jenseits von Existenz und Nichtexistenz.Indem wir das ´Sein' als das erkennen, was nicht als Existenz oder Nichtexistenz begriffen werden kann, entdecken wir etwas, das zu unserer grundlegenden Ausstattung gehört. Dass die Erleuchtung immer gegenwärtig ist, ist die Grundlage der Praxis und der pädagogischen Herangehensweise des "plötzlichen Pfades".

 

 Alles gehört zu uns und wir gehören zu allem

Das bedeutet, dass es kein außerhalb gibt. Alles befindet sich hier in einem System von wechselseitigen Beziehungen. Wenn außerhalb die Bedeutung "nicht zu uns gehörend" hat, dann wäre es besser, alles, was ist als innerhalb zu beschreiben. Wir befinden uns in einer derartigen gegenseitigen Abhängigkeit mit allem, dass wir sagen können, alles gehört zu uns und wir gehören zu allem. Dharma-Praxis hängt von dem Verständnis ab, dass es nichts außerhalb dieses Systems, von dem wir ein Teil sind, gibt. Sie ist auch von der Erkenntnis abhängig, dass alles, was wir wissen können, das Ganze ist, das durch die grundlegenden Bestandteile manifest wird.

 

Die Welt als Ganzes ist hier in dem Alles-auf-einmal-sein, das jedem "hier" innewohnt. Dies ist die Bedeutung der buddhistischen Lehren von wechselseitiger Abhängigkeit und gegenseitiger Durchdringung. Wir leben in einer Welt, die in jeder Einzelheit fruchtet und funktioniert (ein Prozess, bei dem beständig das Nicht-passende ausgeschlossen wird). In Verallgemeinerungen, die nicht die Besonderheiten berücksichtigen oder nicht passen, verdorren wir. Wenn wir uns die Welt als einen Baum vorstellen, ist jede Einzelheit eine Frucht dieses Weltenbaums. Normalerweise sehen wir die Äste, den Stamm oder die Wurzeln nicht, aber die Früchte befinden sich immer direkt vor uns, in jedem Augenblick. Wenn man die Welt als Dharmas erkennt, erkennt man die Früchte des Weltenbaums.

 Der Dharma lehrt uns, wie wir die Tatsache, dass alle Dinge auch gleichzeitig wir selbst sind, entdecken und ihr vertrauen können

"Das bist du!" ist eine Aussage des Hinduismus. In der Zen-Praxis ist dies die Bedingung von Vertrauen; das Vertrauen, das nötig ist, um Meditation zu üben, um seinem eigenen Geist und Körper zu vertrauen und um vertrauensvoll in die Welt einzutreten, mit dem Erkennen: "Auch dies bin ich." Wenn wir einen Satz wie diesen, angesichts von allem, was wir sehen, fühlen, denken und hören, beständig wiederholen, kann uns dies helfen, uns an der Existenzweise der Dinge zu reiben - und sie zu verwirklichen. (Probieren Sie zum Beispiel die folgenden Sätze aus: ,Das bist du' und ,Auch dies bin ich'.) Der Dharma lehrt uns, wie wir die Tatsache, dass alle Dinge auch gleichzeitig wir selbst sind, entdecken und ihr vertrauen können. Der zeitgenössische Zen-Meister Yamada Mumon-Roshi sagte: "Der wesentlichste Punkt ist, absoluten Respekt sich selbst gegenüber zu haben, indem man klar erkennt, dass man hier und jetzt lebt, und dass die Welt auf eine Weise funktioniert, die uns Leben gibt."

 

Wie ich bereits erwähnt habe, ist man in der Zen-Praxis zu der Auffassung von Dharma als erfahrungsbezogener Einheit gekommen: die kleinste erfahrbare Einheit von Aktivität, Wahrnehmung, Erscheinungen und Zuständen von Geist und Sein. Aber wie können wir ein Dharma erfahren? Die meiste Zeit über strömen die Dinge schneller an uns vorbei, als wir wahrnehmen können. Gleichzeitig macht unsere Umgebung einen dauerhaften und unzugänglichen Eindruck. Außerdem ist der Geist ziemlich glitschig. Wie kann der Geist oder der Körper sich selbst inmitten von Aktivität als Dharmas wahrnehmen? Wie können wir die Aktivität des Seins als Dharmas wahrnehmen?

 "Wer das Entstehen in Abhängigkeit sieht, sieht den Dharma."

Die grundlegende Antwort auf diese Fragen besteht in der Erzeugung eines Geisteszustands, der vollständig und präzise erlebt, der sich jedes Augenblicks für einen Moment gewahr ist, der den Hintergrund des Großen Geistes, das Gefühl des Felds des Geistes, ebenso kennt wie den vordergründigen Inhalt des Geistes. Allerdings ist ein Geisteszustand von gleichmäßigem Gewahrsein abhängig von der Entwicklung der yogischen Meditations- und Achtsamkeitsfertigkeiten von Einsgerichtetheit und einem nicht eingreifenden beobachtenden Bewusstsein. Aber wir können Dharmas auch vor der Entwicklung solcher Fähigkeiten und als Teil dieser Entwicklung üben. Dharmas sind niemals von uns getrennt - wir müssen nur einen Weg finden, sie zu bemerken. Der Buddha hat gesagt: "Wer das Entstehen in Abhängigkeit sieht, sieht den Dharma."

 

Die Erfahrung eines Dharma besteht in einer augenblicklichen, einmaligen Unmittelbarkeit – einer Unmittelbarkeit, zu der es in dem Augenblick (diesem Augenblick) keine Entsprechungen oder Verkürzungen gibt. Ein Dharma ist eine Einheit, ein momentanes Entstehen, das verbindet, eine Verbindung, ein Gefäß, eine Konvergenz von Zeit und Raum. Gleichzeitig löst diese Verbindung den Raum als Raum und die Zeit als Zeit in die Unmittelbarkeit auf, die wir ein Dharma nennen. Ein Dharma ist keine Erfahrung, deren Zeitdauer sich messen lässt oder von der man sagen könnte, sie besäße eine bestimmte Dauer. Genauso wenig können wir behaupten, dass ein Dharma einen Raum einnimmt. Aber wir können sagen,dass ein Dharma für einen unmessbaren Augenblick Raum und Zeit ist.

 Vollständig und vollkommen mit allem Verbunden sein

Ein Dharma ist insofern einzigartig und einmalig, als er in seinem zentrierenden Alles-auf-einmal-sein unwiederholbar und absolut unabhängig ist. Trotzdem trennt uns die Einmaligkeit und Einzigartigkeit jedes momentanen Dharmas nicht von den Dingen, den Menschen, der Welt. Eher fühlen wir uns vollständig und vollkommen mit allem verbunden, nicht durch bewusstes Wissen, sondern durch ein Gefühl von Richtigkeit, ein Gefühl, am richtigen Ort zu sein, genährt, offen und alles einbeziehend zu sein. Die Einzigartigkeit eines Dharmas besteht in seinem nicht wiederholbaren, momentanen Alles-auf-einmal-sein. Die Leerheit eines Dharmas besteht in seiner Auflösung von Unterscheidungen. Die Fruchtbarkeit eines Dharmas besteht in der Befreiung vom Augenblick als Objekt oder als Dauerhaftigkeit.

 

Ein Dharma ist kein sprachliches Ereignis. Er befindet sich nicht innerhalb des Bereichs der Sprache. Man kann ihm keinen Namen geben. Wenn man einen Dharma benennen müsste, wäre für jeden Dharma ein neuer Name nötig, denn derselbe Dharma erscheint niemals wieder. Obwohl alles auf diese Weise existiert, benutzen wir doch die Sprache, um auf alltägliche Erfahrungen hinzuweisen, wenn wir zum Beispiel sagen: die Blume ist rot. Zu wissen, dass wir nicht wirklich wissen, was rot ist, ist Dharma-Praxis. Im Zen sagen wir manchmal: "Weder ist die Blume rot, noch der Weidenbaum grün." Ein Dharma ist keine verallgemeinerte Erfahrung.

 

Aber warum habe ich dann versucht, die Erfahrung eines Dharma zu definieren und in Worten darauf hinzuweisen? Weil Worte auch etwas körperliches sind, sie besitzen eine somatische Gegenwärtigkeit in uns und ich möchte versuchen, uns ein Gefühl für Dharmas zu geben, indem ich die Gegenwart und den Widerstand von Worten benutze. Vielleicht hätte ich einfach sagen sollen: Ein Dharma ist eine einmalige, augenblickliche, nicht wiederholbare und doch alles einbeziehende Erfahrung. Aber das habe ich auch gesagt.

 Tore zur Dharma-Praxis

Lassen Sie uns nun versuchen, Tore zur Dharma-Praxis zu finden. Lassen Sie uns die Worte "Genährtsein" und "Vollständigkeit" aus meiner Definition von Dharma betrachten, denn sie sind für uns mit Erfahrungen verbunden. Und lassen Sie uns diese Worte benutzen (indem wir sie in unserem Geist behalten), um die uns vertrauten Gefühle von Genährtsein und Vollständigkeit zu bemerken, sie hervorzurufen und uns darauf zu konzentrieren. Denn ein Dharma ist eine Erfahrung und so müssen wir uns bereits bekannte Erfahrungen finden, die mit der Erfahrung eines Dharma übereinstimmen und uns weiter dafür öffnen können.

 

Weil wir lebendig sind, muss ein Dharma eine Erfahrung sein. Ein Dharma ist nicht bloß eine philosophische oder wissenschaftliche Vorstellung. Der Dharma wäre als Weg und Praxis ohne Bedeutung, wenn er nicht als Erfahrung wahrgenommen und bemerkt werden könnte. Lassen Sie uns also einen Dharma als einen Augenblick, eine Bewegung, eine Erfahrung des Körpergeists definieren, die uns (unter anderem) ein Gefühl von Genährtsein und Vollständigkeit gibt. Normalerweise treten zumindest diese beiden Gefühle auf, aber möglicherweise fällt uns eines davon mehr auf als das andere.

 Die Erfahrung von Vollständigkeit und genährt sein

Wenn wir die Erfahrungsebene finden, auf der eine Wahrnehmung, ein Gedanke, ein Gefühl, eine Bewegung, ein Augenblick von Aufmerksamkeit sich nährend oder vollständig anfühlt, dann können wir diese Erfahrung einen Dharma nennen, oder einen Vorgeschmack eines Dharma, ein Dharma-Tor. Daher können wir mit diesen Worten üben, um ein Gefühl für die Seinsebene zu entwickeln, in der die Dharmas auftreten. Diese Worte können uns ein Gespür für Dharmas geben. Auch wenn dies nicht der Fall ist, oder wenn das alles für Sie keinen Sinn ergibt, ist es doch gut, mit Gefühlen von Genährtsein und Vollständigkeit zu üben.

 

Lassen Sie uns mit dem Gefühl von Genährtsein beginnen. Zum Beispiel können Sie bei Ihrem nächsten Spaziergang versuchen, so zu gehen, dass Sie sich genährt fühlen. An einigen Tagen fühlt es sich einfach gut an zu gehen. Manchmal fühlen wir uns von allen unseren Handlungen genährt. Aber lassen Sie uns versuchen, dieses Gefühl mit Absicht einzufangen.

Wenn Sie gehen, legen Sie die Betonung nicht darauf, von einem Ort zu einem anderen zu gelangen, sondern darauf, ein Gefühl von Genährtsein oder Leichtigkeit in Ihrem Gehen zu entdecken, in Ihrem Geist, Ihrem Körper, in der Stimmung der Umgebung, den Gebäuden, Bäume, in Ihren Füssen auf der Erde oder dem Bürgersteig, in Ihrer Gangart: ob Sie schlendern, bummeln oder schneller ausschreiten und so weiter. Wenn Sie es nicht gleich spüren, vertrauen Sie darauf, dass das Gefühl von Genährtsein irgendwo in Ihrer in gegenwärtigen Erfahrung steckt und für Ihre Erfahrung zugänglich ist. Sie müssen nicht darauf warten, als wäre es ein überraschendes Geschenk. Irgendwo in Ihnen muss es ein Überbleibsel des Vorgeschmacks von Genährtsein geben. Vielleicht müssen Sie sich etwas einstimmen bis sich Ihr Körper in der physischen Handlung des Gehens (oder beim Sitzen oder Stehen) wohlfühlt.

 

Sie müssen nicht ständig auf diese Weise gehen. Betrachten Sie es als Experiment, um herauszufinden, ob Sie das Gefühl von Genährtsein finden können. Sie können dies auch auf Treppen probieren, die oft ein guter Platz sind, um allein und ungestört zu sein. Lassen Sie die Gangart der Treppe Ihren Atem und Ihre Bewegung formen. Lenken Sie einfach Ihre Aufmerksamkeit auf die Handlung des Treppensteigens. Denken Sie weniger an andere Dinge, bis Sie das Ende der Treppe erreichen. Das kann wie ein kleiner Urlaub sein.

Ebenso können wir auch im Sprechen ein Gefühl von Genährtsein entdecken. Wir können auf eine Weise sprechen, die nährend für uns ist. Wir können aufhören zu reden, wenn wir uns nicht mehr genährt fühlen. Und wir können während des Sprechens das, was wir sagen, vom Gefühl des Genährtseins leiten lassen. So wie ich jetzt zum Beispiel innerhalb des Gefühls schreiben kann, vom Schreiben genährt zu werden. Ich kann das Gefühl von Genährtsein mein Schreiben führen lassen.

Es ist möglich, in jedem geistigen und körperlichen Augenblick ein Gefühl von Vollständigkeit zu haben.

Auch die Praxis von Vollständigkeit sollten wir in kleinen Dingen ausprobieren, bis wir ein Gefühl dafür bekommen. Dann können wir dieses Gefühl auf andere Aktivitäten ausdehnen - oder auf alle unsere Aktivitäten. Es ist möglich, in jedem geistigen und körperlichen Augenblick ein Gefühl von Vollständigkeit zu haben.

Durch das Wort "Vollständigkeit" können wir ein Gefühl für die Besonderheit jedes einzelnen Dharmas bekommen. Mein Vorschlag ist, dass Sie innerlich das Wort "vollständig" bei jeder Wahrnehmung wiederholen - jedes Mal, wenn Sie etwas ansehen oder fühlen.Versuchen Sie das eine Zeit lang, vielleicht nur für eine Minute. Nachdem das Gefühl entstanden ist, sich dem jeweiligen Objekt zugewandt zu haben, gehen Sie zu dem nächsten über, was Sie sehen oder fühlen. Manchmal wird sich das Objekt unserer Beobachtung in unserem Atem niederlassen oder ihn beruhigen.

 Übungen der Erfahrung von Vollständigkeit und des Genährtseins

Oder lassen Sie einfach zu, dass das Gefühl von Vollständigkeit in jeder einzelnen Handlung oder Wahrnehmung gegenwärtig ist. Nehmen wir zum Beispiel einmal an, Sie möchten ein Buch von einem Tisch aufheben. Dies kann eine Abfolge von kleinen momentanen Bewegungen sein (was auch tatsächlich der Fall ist), wobei jede in sich selbst vollständig ist. Zuerst ist da die Absicht, das Buch aufzuheben. Erlauben Sie sich, dies für einen Augenblick zu fühlen. Wenn wir eine solche Übung beginnen, können wir die einzelnen Schritte etwas verlangsamen. Als nächstes müssen wir unseren Körper, Arm und Hand zu dem Buch hinbewegen. Pause. Wir können die Absicht in unserem Arm und unserer Brust spüren. Dann bewegen wir den Arm und die Hand zum Buch hin. Lassen Sie auch dies eine vollständige, bewusste Handlung sein. Jeder Dharma hat einen winzigen Anfang und ein winziges Ende - ein Entstehen und Vergehen. Dann lassen Sie die Hand für einen Augenblick das Buch berühren und fühlen Sie seine Temperatur, Oberflächenstruktur und Festigkeit. Es gibt einen fast nicht wahrnehmbaren, aber dennoch vorhandenen Stillstand zwischen jedem Augenblick von Vollständigkeit. Dann heben wir das Buch an. Dies ist wieder ein Augenblick von Vollständigkeit, in dem wir spüren, wie wir das Gewicht des Buches vom Tisch heben. Dann bringen wir es in den Bereich unseres Körpers. In der Zen-Praxis wäre es üblich, das Buch mit beiden Händen zu greifen und es so zu drehen, dass sein oberes Ende von uns abgewandt ist. Das ist eine Möglichkeit, das Buch als Objekt zu respektieren. Dann würden wir es für einen Moment im Feld des Körpers halten - und es dann öffnen oder weglegen. Auf diese Weise wird das Feld des Körpers lebendig.

 

Das hört sich vielleicht sehr langsam an, aber in der Ausführung ist es gar nicht so langsam, auch nicht am Anfang. Wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, geht alles genauso schnell, wie wenn man Dinge auf eine andere Art tut, nur dass nun Aufmerksamkeit in allen Aktivitäten gegenwärtig ist. Vermutlich muss sogar ein Rennfahrer einen solchen Geisteszustand von Vollständigkeit in jeder Handlung besitzen.

 

Unsere Handlungen oder Gedanken werden dadurch also nicht merkwürdig ruckartig, wie in einem zu langsam laufenden Film. Trotzdem können wir anfangs üben, unsere Handlungen etwas zu verlangsamen. Wenn wir zum Beispiel die Hand auf eine Türklinke legen, fühlen wir für einen Augenblick deren Oberfläche, drücken dann die Klinke herunter und öffnen anschließend in einer oder mehreren vollständigen Bewegungen die Tür. Dann gehen wir durch die Tür, schließen sie, lassen sie ins Schloss fallen und lassen die Klinke wieder los. Abgesehen von der bewussten Verlangsamung in der Anfangsphase dieser Übung, ist der Wechsel zu einem Gefühl von Vollständigkeit in jeder geistigen und körperlichen Handlung unsichtbar und führt nicht zu Unterbrechungen.

 

Wenn wir uns angewöhnen, bei jeder Handlung, jeder Wahrnehmung, jedem Gedanken und jedem Atemzug ein Gefühl von Vollständigkeit zu entwickeln, werden wir uns nach einem Jahr vollständiger fühlen - das ist offensichtlich. Mit Sicherheit vollständiger, als wenn wir die meiste Zeit über viele Dinge nur halbherzig tun. Woher  wissen wir, ob eine kleine Handlung vollständig ist? Wie weiß ein Künstler, ob ein Bild vollständig ist, ob ein Pinselstrich vollständig ist? Es ist ein Gefühl,letztendlich ein ästhetisches Gefühl. Es geht nicht darum, ob Ihre Dharmas von Vollständigkeit sich von denen anderer Menschen unterscheiden. Was zählt, ist nur Ihr eigenes tatsächliches Gefühl von Vollständigkeit in jeder Handlung.

 

Lassen Sie jedes Ding, jeden Augenblick, zu einem Dharma werden, wenn sich Ihre Aufmerksamkeit darauf richtet; lassen Sie alles in einem Gefühl von Genährtsein und Vollständigkeit erblühen. Dann lassen Sie los.

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