Bewusstsein und Praxis
Inhalte des Bewusstseins
Wenn wir unseren Geist bewusst erleben, nehmen wir ihn als die Inhalte des Bewusstseins wahr. Bewusstsein ist der Inhalt des Geistes. Wir existieren, wir definieren uns durch und mit den Inhalten des Bewusstseins, besonders mit den Inhalten, die in unsere persönliche Geschichte passen. Nicht zu unserer Geschichte passende Inhalte unterdrücken wir eher, wir ignorieren sie oder halten sie irgendwie außerhalb des Bewusstseins.
Was sind die Inhalte des Bewusstseins? In erster Linie sind das Gedanken in sprachlicher Form, denn unsere Wahrnehmungsweise beruht auf der Sprache. Dann sind da noch Bilder, Emotionen, Gefühle und Stimmungen, die in unterschiedlichem Ausmaß ebenfalls sprachlich bemerkt und ausgedrückt werden können. Heidegger nennt die Sprache das "Haus des Seins". Die Prozesse der Erinnerung -Speichern und Abrufen- werden durch die Art und Weise geformt und entwickelt, auf die wir unsere Beziehung zu den Bewusstseinsinhalten ausbilden. Daher ist die Erinnerung selbst untrennbar mit kulturellen Kategorisierungsweisen verbunden. Sprache kommt von unserer Kultur, von anderen Menschen, von unseren Freunden. Wir haben uns die Sprache nicht ausgedacht, sie wurde uns gegeben. Sogar wenn Zwillinge ihre eigene Sprache entwickeln, ist dies ein gegenseitiges Geben.
Bilder entstehen durch die Sinne, hauptsächlich durch das Sehen. Um etwas, das wir gesehen haben, bewusst wahrzunehmen, muss der Geist das Gesehene in sein geistiges Gegenstück umwandeln. Entsprechendes tut der Geist für jeden einzelnen Sinn. Die Bewusstseins-Gegenstücke der Sinneswahrnehmungen sind eine Art Sprache der Wahrnehmung, die kulturell beeinflusst, ja sogar kulturell bestimmt ist -besonders weil wir im Allgemeinen Wahrnehmungen vergegenständlichen, indem wir versuchen, ihnen sprachliche Definitionen zu geben. Doch auch noch vor solch einer sprachlichen Definition sind die ursprüngliche Auswahl des Wahrzunehmenden, die Grenzen dieser Wahl, die weitere Bearbeitung hinsichtlich Haupt- und Neben-Bedeutung sowie das Einpassen einer Wahrnehmung in das Gewebe der Geistesinhalte alles Teile eines Prozesses, der in die Sprachen und geistigen Muster einer Kultur eingebettet ist.
Oft lassen wir die Grenzen kultureller Sprachen und Muster hinter uns, wenn zum Beispiel an einem Sommertag alles direkt in uns hineinzuströmen scheint, aber wir erlauben es diesen vereinzelten Öffnungserlebnissen nur selten, uns für eine weniger kulturell bestimmte Sprache der Sinne zu öffnen. Denn es gibt- für uns alle, zumindest potentiell - ein Öffnen gegenüber einem Wissen, das nicht an einen Vorrat von geistigen Gegenstücken gebunden ist; ein Wissen, das in den Sinnen selbst liegt. Wir könnten das als eine vorkonzeptuelle Synästhesie (Miterregung eines Sinnesorgans bei Reizung eines anderen, A.d.Ü.) bezeichnen: wir gestatten es jeder Wahrnehmung, in andere Wahrnehmungen und in die Vollständigkeit der Welt einzufließen. Dies ist ein Wissen, das das Bewusstsein aus den Geistesinhalten heraus und in die Gegenwart der Welt hinein lenkt.
Der Geist wird von unseren Stimmungen beeinflusst - traurig, glücklich, entmutigt, erschöpft. Es ist, als ob der Geist Wasser wäre, das gefärbt werden kann. Wenn das Geist-Wasser glücklich gefärbt ist, dann neigen die Gedanken und Wahrnehmungen dazu, angenehm, glücklich und voller Freude zu sein. Wenn der Geist traurig gefärbt ist, dann färbt diese Stimmung auch unsere Gedanken, und unsere Wahrnehmungen tendieren dazu, grau, störend und missvergnügt zu sein. Wir erleben die Färbungen, Stimmungen und Emotionen als Inhalt des Geistes, aber das stille, ungefärbte Wasser des Geistes selbst nehmen wir nicht wahr. Das liegt daran, dass sich das ungefärbte Wasser des Geistes außerhalb der Kategorien des Bewusstseins befindet - den Kategorien von Farbe, Wellen und so weiter. Der Geist ist größer als seine bewussten Inhalte, aber die Größenordnung des Geistes liegt außerhalb des Bereichs der Bewusstseinsinhalte - daher sind wir uns des Geistes, seiner Aktivität und seines Potentials nicht gewahr.
Bewusstsein ist das Bewusstsein von etwas, daher ist Bewusstsein vorhanden wenn Geistesinhalte vorhanden sind. Aber das sollte klar sein, das Bewusstsein ist nicht der gesamte Geist. Die Übung der Zen-Meditation dient dazu, dies umzuwenden, das Gewahrsein von den Inhalten des Geistes abzuwenden, so dass wir das formlose Feld oder den Raum des Geistes erfahren. Dann werden die Inhalte von Wahrnehmung und geistiger Aktivität bemerkt, während sie aus dem Feld des Geistes hervorgehen und dabei den Geist formen und färben. In der Übung von Zen geht es auch darum, den formlosen Geist selbst, das Feld des Geistes selbst in reiner Form zu erkennen - und gleichzeitig auch die Inhalte des Geistes zu umschließen und zu durchdringen. Das formlose Feld des Geistes ist die Wurzel des Ursprünglichen Geistes.
Die Zen-Übung lockert unseren Geist auf, lässt ihn aus Kategorisierungen herausgleiten und macht ihn geschmeidiger. Unser Geist beginnt, frei von persönlichen Gewohnheiten und kulturellen Kategorien zu denken und wahrzunehmen. Er befindet sich in Übereinstimmung mit dem Feld der Gegenwart, er entsteht eher aus dem Feld der Gegenwart als aus dem Lagerhaus unserer persönlichen Geschichte. Die Geistesinhalte erscheinen jetzt wie Dinge, die im Wasser treiben und vor uns Form annehmen.
Diese Art des Erlebens erlaubt es uns, etwas freier von den Geistesinhalten zu sein und sich weniger mit ihnen als vielmehr mit dem klaren Wasser, der Soheit des Geistes selbst zu identifizieren. Durch Übung können wir uns zwischen der Identifikation mit den Inhalten des Geistes und der Identifikation mit dem Feld (dem reinen Wasser) des Geistes hin und her bewegen. Diese Bewegung reinigt und erfrischt auch die Inhalte des Geistes.
Um noch einmal kurz zu wiederholen: Was wir vom Bewusstsein kennen, sind die Inhalte des Bewusstseins - und ohne Meditationsübung ist dies schon fast alles, was wir vom Geist kennen. Die Inhalte und Prozesse des Bewusstseins sind praktisch untrennbar von Kultur und Sprache. Auf diese Weise sind wir menschliche Wesen, homo humanus und nicht homo barbarus. Aber es ist nicht die einzige Art und Weise, auf die wir menschliche Wesen und keine Barbaren sind. Nochmals: Geist und Sein sind mehr als nur Bewusstsein.
Glücklicherweise kann unser von Kultur geformter Geist auch durch Kultur neu geformt werden - und wenn wir Zen praktizieren, durch buddhistische Kultur. Buddhistische Meditation und Achtsamkeit sind Übungen, die darauf abzielen, die Architektur und die Prozesse des Geistes neu zu formen, so dass wir in die Lage kommen, unseren Ursprünglichen Geist und unseren Großen Geist zu erkennen.
Sechs Hindernisse für die Praxis
In Bezug auf die vorangehende Erörterung sehe ich die folgenden Punkte als die wichtigsten Hindernisse einer verwirklichten Praxis im Westen. Die ersten beiden Hindernisse sind verinnerlichte kulturelle Ansichten: Die als selbstverständlich vorausgesetzten Gesamtansichten der Wirklichkeit, die unsere - oder irgendeine - zivilisatorische und kulturelle Weltanschauung definieren; und die mehr historisch geprägten, aber dennoch tief verwurzelten kulturellen Ansichten, die die Angewohnheiten sowie Ausmaß und Richtung der Aufmerksamkeit bestimmen. Als gegeben vorausgesetzte und tief verwurzelte kulturelle Ansichten stellen drei Problemkategorien dar. Zum einen begrenzen und verzerren diese verinnerlichten Ansichten in der Regel das, was wir als Wirklichkeit ansehen. Zweitens sind sie schwer wahrzunehmen und noch schwerer zu ändern. Drittens neigen sie dazu, das Selbst nach außen zu verlagern und auf eine Weise auswärts zu richten, die uns davon abhält, unser Wahres Selbst zu bemerken und uns ihm gegenüber zu öffnen. Ein grundlegender Bestandteil von Zen sind daher Methoden, mit denen sich behindernde Ansichten bemerken und ändern sowie durch zutreffendere und wirksamere Ansichten verdrängen lassen.
Die Welt, so wie sie sich uns durch unsere Ansichten und Aufmerksamkeitsgewohnheiten darstellt, ist die Welt. Diese Ansichten und Aufmerksamkeitsgewohnheiten etablieren den Geist in seinem gegenwärtigen Gedächtnis (dem Hilfsmittel zum Erkennen der Gegenwart) und halten die Welt an ihrem Platz: sie errichten unser Körperbild, unsere Geistes- und Sinnes-Parameter, und das, was wir als oben und unten, als hier und dort kennen. Wenn wir unsere Ansichten in Frage stellen oder unsere Aufmerksamkeitsgewohnheiten ändern; stellen wir die gesamte uns bekannte Welt in Frage. Deshalb erfordert die Änderung unserer Erkennensweise beträchtliche Stabilität, geistige Klarheit, Energie und Verpflichtung. Das dritte Hindernis besteht daher darin, dass wir in der Regel nicht die nötige Stabilität, Energie und Entschlossenheit haben, um unsere Erkennensweise zu ändern - falls wir nicht wirklich die Vision und mitfühlende Menschlichkeit besitzen, den Sinn im Unternehmen dieser Veränderungen zu sehen und die Lehren und Übungen zu finden, die uns dabei helfen.
Das vierte Hindernis besteht darin, dass die meisten von uns nur eine vernachlässigte und unentwickelte Auffassungsgabe für umwandelnde Erfahrungen besitzen. Normalerweise nehmen wir neue Erfahrungen von uns selbst und der Welt nicht wahr oder unterdrücken sie. Außerdem fehlt uns in der Regel die Fähigkeit, spirituelle, psychische und psychologische Erfahrungen, die ein gültiges Wissen darstellen, von täuschenden oder unwichtigen zu unterscheiden.
Das fünfte Hindernis ist die körperliche und geistige Ruhelosigkeit, die uns angeboren ist und die auch durch die Massenmedien und unseren Lebensstil kulturell verstärkt wird. Wir bemerken das ganz besonders während der Meditation, wenn der Geist von Gedanken zu Gedanken springt, und wenn der Körper nervös ist und sich ständig mit Dingen beschäftigt, die noch zu tun sind.
Das sechste Hindernis ist unsere Vorstellung von einem dauerhaften Selbst. Auch wenn wir verstandesmäßig vielleicht akzeptieren, dass sich alles verändert und in gegenseitiger Abhängigkeit befindet, dass wir sterben werden und so weiter, und dass es daher kein dauerhaftes Selbst gibt, leben wir auf funktioneller Ebene doch so, als ob wir ein dauerhaftes Selbst besäßen. Wir können das in der Meditation erkennen, wenn unsere Aufmerksamkeit immer wieder zum Denken als der Kontinuität unseres Selbst zurückkehrt - als ob das Selbst und das Denken die beste und dauerhafteste Zuflucht wäre. Wir erkennen es auch an der Vorstellung, dass es irgendwo in uns einen unveränderlichen Zeugen gibt.
Obwohl die Vorstellung eines dauerhaften und selbstsüchtigen Selbst das Übungs-Hindernis ist, auf das üblicherweise am häufigsten hingewiesen wird, ist es doch unmöglich, unsere implizit auf der Annahme eines dauerhaften Selbst beruhende Funktionsweise zu beseitigen, solange wir uns nicht mit den ersten fünf Hindernissen auseinandergesetzt haben. Erst wenn wir uns von als selbstverständlich vorausgesetzten und tief verwurzelten Ansichten befreit haben; von den kulturell bestimmten Parametern geistiger Aktivität, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit; von Ruhelosigkeit und Ablenkung; und wenn wir Kontakt zu unserer grundlegenden Energie haben und unsere Kapazität für spirituelle und psychologische Erfahrungen erweitert haben: erst dann können wir den Prozess in Gang setzen, uns selbst wirklich von der Gewohnheit eigennütziger Gedanken und der impliziten Vorstellung eines dauerhaften Selbst zu befreien.
Nicht aussteigen
Die größte Hürde für die Entdeckung unseres inneren Potentials besteht darin, dass das Leben für uns im Westen so überzeugend und so gut ist. Obwohl wir nicht behaupten können, dass in den westlichen Ländern alle Menschen zutiefst glücklich sind, glauben doch nur wenige, dass es zu dem Leben, das uns unsere Gesellschaft anbietet, eine Alternative gibt. Die zeitgenössische bürgerliche Gesellschaft hat uns davon überzeugt, dass sie die beste und am weitesten entwickelte Gesellschaft der gesamten Geschichte ist. Die meisten Menschen sind davon derartig überzeugt, dass sie nichts sehen, das sich noch verbessern ließe - außer der Verbesserung der bürgerlichen Gesellschaft selbst innerhalb ihrer eigenen Denkkategorien. Tatsächlich verbessern wir ja einige Dinge, auch wenn uns diese Verbesserungen nicht unbedingt sehr viel glücklicher machen.
Unter ´bürgerlicher Gesellschaft' verstehe ich den sich im Wesentlichen selbstorganisierenden sozialen Raum von Wirtschaft, Regierung und Privatinteressen, die sich in wechselseitiger Abstimmung miteinander befinden und dem Bild einer ´gerechten und stabilen öffentlichen Ordnung' verpflichtet sind. Obwohl sich die Regierungen selbst als Schiedsstelle und Schützer der Rechte innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft darstellen -was sie zu einem gewissen Ausmaß auch sind-, bilden sie doch in erster Linie einfach einen Teil des Transaktionsmusters. Die Industriestaaten haben eine tiefgründige soziale Ordnung geschaffen, aber sie haben unser Gewahrsein für die Möglichkeiten des Seins eingeschränkt und fordern unserer Umwelt einen unkalkulierbaren Tribut ab.
Ich genieße die Wahlmöglichkeiten und die Freiheit, die wir als zeitgenössische Menschen aus dem Westen haben. Obwohl hundert Fernsehkanäle selten mehr als einige wenige wirkliche Alternativen bieten und auch die sind meistens eher unbedeutend, würde ich mir eine ideale Welt dennoch nicht ohne Fernsehen bzw. nur mit ´guten Sendern' vorstellen. Das Problem sind die vielen Dinge, die unsere Aufmerksamkeit beherrschen und auch absorbieren, und die dazu neigen, als Ersatz für ein spirituelles Leben, eine zutreffende Auffassung des Seins und wirkliche Freundschaften zu dienen.
Wir haben eine Wohlstandsgesellschaft mit zunehmender Gleichberechtigung. Aber wir haben unseren Sinn für eine erfolgreiche Identität eingeengt. Diese eingeschränkte Identität hat sogar die Begabtesten unter unseren Jugendlichen und Erwachsenen gefangengenommen. Ich trete allerdings nicht dafür ein, aus Schule, Beruf oder Geschäft auszusteigen. Aussteigen kann manchmal das Richtige sein, aber die meisten von uns haben ihre Arbeit innerhalb der Gesellschaft, in ihrem Beruf und ihrer Gemeinschaft zu tun. Die Alternative besteht nicht darin, eine andere Art von Regierung zu schaffen -obwohl auch das eine Möglichkeit ist-, sondern unserer Gesellschaft die Vision und die Hilfsmittel eines inneren Lebens zu eröffnen, das weniger nach außen gerichtet und weniger konsumorientiert ist.
"Von der Geburt an nicht gelernt haben, diesen Dingen allen überkommenen Sinn zu verleihen, sondern sie mit dem Ausdruck zu erleben, den sie abgetrennt von dem Ausdruck besitzen, den man ihnen auferlegt hat. ... Alles zum ersten Mal wahrnehmen, nicht apokalyptisch als Offenbarungen des Geheimnisses, sondern unmittelbar als Blüte der Wirklichkeit." (Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe, S.79)