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Das Kloster als Spielfeld

von
Rebecca Nordin Mencke

"Fehlt dir Spiritualität in deinem Leben?", fragte mich meine Schwester, als ich ihr davon erzählte, für eine Meditationswoche in ein Zen-Kloster zu fahren. Aber ob mir Spiritualität fehlte, wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass Zazen für mich eine sehr spannende und hilfreiche Praxis ist, die ich kürzlich entdeckt hatte. Diese Erfahrung wollte ich gerne in einer Gemeinschaft vertiefen.

Ein weißer Fleck in der übersetzten Weltliteratur
"Nicht zu wissen ist am nächsten", heißt es in dem Koan, mit dem wir uns dann während des Praxismonats im Johanneshof und Online beschäftigten - und dass aus meiner Praxiswoche ein ganzer Monat werden würde, hatte ich tatsächlich vorher nicht gewusst. Trotz allem Nicht-Wissen oder gerade deswegen wurde es ein Monat voller Aha-Momente.

"Wissen ist falsches Bewusstsein, Nicht-Wissen ist Gleichgültigkeit", heißt es an anderer Stelle in dem Koan und "Wenn die Leute jetzt hören, dass Nicht-Wissen am nächsten ist, und dass Fayan daraufhin Erleuchtung erfuhr, dann stellen sie sich sofort auf die Seite des Nicht-Wissens, ohne den Satz zu verstehen 'Genau dies ist es.'". Mit manchen Sätzen konnte ich mich sofort anfreunden, über andere rätselte ich länger oder entdeckte neue Bedeutungsebenen, nachdem ich ihn schon verstanden glaubte. Auch Nicole hob immer wieder einzelne Sätze heraus und öffnete spannende Einblicke in die Vielschichtigkeit des Textes. "Woher wussten die das damals schon?", wunderte sie sich einmal und ja, ich habe wohl auch selten einen so klugen Text über das Nicht-Wissen gelesen.

Überhaupt Koans:  Was sind das für Juwelen der Weltliteratur! Wie kann ein solcher Schatz hierzulande so unbekannt sein und mangels Übersetzungen kaum zugänglich! Einerseits überrascht mich das gar nicht, gleichzeitig komme ich aus dem Staunen nicht heraus. Texte, die nicht nur unsere Lesegewohnheiten herausfordern - wie Nicole einmal zu Beginn feststellte und uns empfahl, nicht streng von vorne nach hinten zu lesen -, sondern die auch gleichsam die Gehirnwindungen durchpflügen oder immer wieder kräftig durchpusten. Als würden die Gedanken gründlich massiert.

Ein Sutra, bei dem die Sonne aufgeht
Eigentlich bin ich ja zum Meditieren gekommen, dachte ich am Anfang, als ich auf dem Wochenplan die "Sutra Rezitationen" sah - nehm ich das halt auch mal mit, dachte ich. Aber auch hier erwarteten mich Aha-Momente. Mit Stimme und Atmung hatte ich mich schon in anderen Kontexten beschäftigt. Bei den Rezitationen in der Gruppe fiel mir der Zusammenhang zwischen Stimme und Stimmung nochmal ganz neu auf. Welche Kraft sich im gemeinsamen Klang entfalten kann, jedes Mal ein bisschen anders. Wie unterschiedlich auch die verschiedenen Passagen innerhalb eines sinojapanischen Sutras wirken: mal war mir, als gingen wir wie durch einen dunklen Wald, dann wieder war es, als ginge die Sonne auf oder eine weite Lichtung öffnete sich.

Als ich ab der zweiten Praxiswoche von zuhause aus online weiterpraktizierte, soweit es mein sonstiger Zeitplan zuließ, dachte ich dann zuerst: diese Erfahrung will ich mir nicht durch den künstlichen Klang meiner technischen Geräte zerstören lassen - oder dadurch, eben nicht mittendrin zu sein. Dann schilderte aber in einer Online-Runde eine Teilnehmerin ihre Erfahrung aus den Sutra-Rezitationen und ich dachte: Geb ich dem doch noch eine Chance. Und: Oha.

Die Verbeugung vor der Wassermelone
Gut möglich, dass ich bei denselben Sutras in einer anderen Gemeinschaft schreiend davongelaufen wäre. Der Umgang mit Ritualen war für mich möglicherweise die spannendste Erfahrung am Johanneshof. "Dann verbeugen wir uns vor der Wassermelone", sagte Max, als er die interessierten Neulinge unter uns in die sehr ritualisierte Form des Dokusan einwies - das (Spoiler Alert) sehr viele Verbeugungen enthält. Wenn mehr Menschen einen so entspannten Umgang mit ihren eigenen Ritualen pflegen würden, wäre die Welt sicher ein friedlicherer Ort, dachte ich mehrfach. Eine andere Teilnehmerin wies einmal sehr treffend darauf hin, dass wir von diesen Ritualen über oft unausgesprochene Regeln einer Gesellschaft lernen können - auch darüber, wie über Regeln kommuniziert wird oder sie schweigend vorausgesetzt werden.

Bei den Oryoki-Mahlzeiten wurde jedenfalls nichts dem Zufall überlassen. Die rituellen Abläufe lösten in mir als traditioneller Langsam-Esserin schon mal leichten Stress aus. Zunehmend konnte ich mich aber auch auf meine Atmung konzentrieren, mein Körper entspannte und so wurde das Essen plötzlich zu einer Tätigkeit, die weit mehr erfüllte, als gut zu schmecken und zu stärken.

"Das Kloster ist wie ein Spielfeld", sagte Nicole manchmal. Hier wird ein wertschätzendes Miteinander in jedem Atemzug gelebt, dachte ich und fühlte ich. Neben kleinen Gesten verdeutlichten mir immer wieder Gespräche: Hier sind viele Menschen wirklich aufmerksam und zugewandt. Und ich habe einige Bewunderung für die Offenheit, mit der das Kloster-Team auf die verschiedenen Bedürfnisse und Anliegen der Gäste eingeht: von langjährigen Sangha-Mitgliedern bis zu Neulingen wie mir, die vielleicht auch erstmal schauen wollen.

Natürlich hoffe ich, nicht eines besseren belehrt werden zu müssen, aber nach meinem Eindruck wird hier niemand zu etwas überredet. "Seid gut zu euch selbst und achtet auf eure Grenzen", sagte Dieter in der ersten Einführungsrunde. Eine Erinnerung, die auch Nicole und andere in der alltäglichen Praxis immer wieder hervorhoben. Denn so schöne Erfahrungen mit und durch Zazen möglich sind, kann die Praxis auch sehr unangenehme Dinge hervorrufen. Ist das hier wirklich das Richtige für mich? - wurde so zu einer wiederkehrenden Frage in der Praxis. Nicht für jede Person oder in jeder Situation mag Zazen das richtige sein - was nicht heißt, dass man beim ersten Zwicken im Knie sofort alles aufgeben muss.

Mit Zen auf den Marktplatz
Umso herausfordernder gestaltete sich die Rückkehr nachhause und der Wechsel in die Online-Version des Praxismonats. Die Welt ist eben kein Ponyhof - oder in diesem Fall: kein Johanneshof. Zen gehört in die Mitte des Marktplatzes, nicht in eine weltabgewandte Abgeschiedenheit - nahm ich als einen Leitsatz mit. Aber wie lässt sich dieser achtsame Umgang miteinander in eine Welt transportieren, in der Hektik einem oft genug den Atem nimmt, in der Ausbeutung - manchmal auch sich selbst gegenüber - auf der Tagesordnung steht und immer wieder Wut die einzig angemessene Reaktion auf eine Situation ist?

Im Zazen und in Gesprächen öffneten sich mir manche Themen zumindest aus einer neuen Perspektive. Woher kommt überhaupt die Wut? Ist das wirklich meine eigene Wut? Sind unsere Gefühle nicht eigentlich stark davon geprägt, wie wir sozialisiert sind, welche Gefühle andere von uns erwarten und welche Gefühlsausdrücke andere uns zugestehen? Und plötzlich fallen mir verschiedenste Arten von Wut auf: Die Wut, die ich selbst für kleinlich und fehl am Platz halte; die Wut, die mir den Blick auf Dinge versperren kann; aber auch die Wut, die vollkommen berechtigt ist und vielleicht sogar Kraft zur Veränderung mit sich bringt. Manches verwirrte mich, manches sah ich auf einmal ganz klar, manche Fragen begleiten mich weiter und erreichen vielleicht sogar mehr als eine rein konzeptuelle Ebene. Und dann gab es Momente, in denen ich dachte: Wow, warum war ich gerade so präsent?

Ganz schön viel Input, hatte ich am Anfang gedacht, als wir neben dem Koan einen längeren - und nebenbei sehr spannenden und schön geschriebenen - Text von Baker Roshi über "Die Koan-Praxis im Westen" erhielten, dazu Vorträge von Nicole, Gruppengespräche und dann ist da ja noch die Bibliothek. Am Ende dachte ich vor allem: Wie kann in so kurzer Zeit so viel passieren.


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