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Über die Achtsamkeit

von
Shōsan Gerald Weischede

Es geht immer um den jetzigen Augenblick.
Das Leben findet immer nur „jetzt“ statt.
Alles andere ist entweder vergangen oder zukünftig.

„Wer könnte ganz und gar durchschauen, dass (dasLeben) nur aus gegenwärtigen Augenblicken besteht...?"
(Meister Dogen, 2001, Shōbōgenzō, Bd. 1, S. 63)


In den letzten Jahren ist sehr viel über die Achtsamkeit gesagt und publiziert worden.
Es scheint so, als ob die Achtsamkeit so etwas wie ein Allerheilmittel für alle möglichen Probleme geworden ist: ein geschwächtes Ich scheint gestärkt zu werden, die Achtsamkeit kann das Leben funktionaler machen, sie kann bei der Selbstoptimierung helfen, die Arbeit verbessern und erfolgreicher machen, sie kann helfen, mehr Geld zu verdienen und insgesamt ein besserer Mensch zu werden. Dabei werden die Grenzen zur Konzentration, Aufmerksamkeit und zum Gewahrsein oft verwischt.

Der Mensch ist, so könnte man sagen, grundsätzlich aufmerksam, er ist wach, er ist lebendig. Aufmerksamkeit ist Wachheit und Lebendigkeit. Diese Lebendigkeit nun setzt der Mensch um, zum Beispiel in Konzentration, als die Reduzierung der Aufmerksamkeit auf eine einzige Tätigkeit, oder in allgemeine Tätigkeiten, bei denen zwischen mehreren Tätigkeiten schnell hin und her gesprungen wird. Aber auch die Tagträume, die es ermöglichen, ganz aus der jeweiligen Situation auszusteigen, sind Teil der allgemeinen menschlichen Tagesaktivitäten.

Sowohl während der Meditation auf dem Kissen als auch im Alltag, nimmt der Mensch den jetzigen Augenblick oft nicht wahr. Was ist damit gemeint? Generell kann gesagt werden, dass alles jetzt in diesem Augenblick stattfindet. Oberflächlich betrachtet ist diese Aussage banal, bei genauerer Untersuchung dieser Aussage jedoch muss man feststellen, dass der Mensch das Jetzt-Hier, den jetzigen Augenblick also, in der Regel nicht realisiert. Er ist fast immer absichtsvoll und zielgerichtet in Bewegung, oft mit seinem Geist immer schon beim Ziel und nicht auf dem Weg dorthin, nicht beim Schritt für Schritt in diesem Moment.
Auf diesesHier-Jetzt zielt die Achtsamkeitspraxis ab.

Der Geist kann sich jederzeit aus dem Augenblick herausdenken oder phantasieren, sich dem Moment also entziehen. Das kann der Körper nicht, er ist immer im jetzigen Augenblick. Eine Achtsamkeitspraxis beginnt daher mit der Frage, wo sich denn der Körper gerade befindet, z.B. in welcher Haltung und in welcher Befindlichkeit, das schließt die jeweiligen Gefühle mit ein. Dazu bedarf einer Schulung des Geistes die darauf ausgerichtet ist, auch den Geist in den Moment zu bringen.

Was ist der jetzige Augenblick?
Stelle dir einen Menschen vor, der geht. Lassen wir ihn den Geher nennen. Aus der Sicht des Alltagsbewusstseins ist dieser Geher aus der Vergangenheit gegangen oder gekommen, geht gerade durch die Gegenwart hindurch und in die Zukunft hinein. Er geht wie auf einem Zeit-Vektor aus der Vergangenheit, durch die Gegenwart in die Zukunft.
Nun lassen wir die Vergangenheit einmal weg, die Vergangenheit zählt für einen Moment nicht mehr und auch die Zukunft nicht. Der Geher geht ohne Vergangenheit und ohne Zukunft, er geht einfach im jetzigen Moment und setzt einen Fuß vor den anderen, ohne Vergangenes und ohne Zukünftiges.
Das ist der jetzige Augenblick.

Wer nun ist diese Person ohne Vergangenheit und ohne Zukunft? Eine Person ohne Geschichte und ohne Zukunft, eine Person ganz im gegenwärtigen Augenblick. Nicht definiert durch ihr bisheriges oder ein zu erwartendes Leben. Eine Person ganz im jetzigen Augenblick gehend, einen Fuß vor den anderen setzend.
Für eine so gehende Person entfaltet sich das Leben mit jedem Schritt immer wieder ganz neu, nicht bezogen auf Vergangenes und nichts für die Zukunft erwartend. Eine so gehende Person ist frei von Vergangenem, frei von Zukunfts-Plänen, frei für all das Unvorhergesehene, das sich im jetzigen Augenblick ereignen und eröffnen kann. Aber auch frei von Selbst-Definitionen, Selbst-Bildern, sie hat ihr Ich-Selbst zurückgenommen und Platz gemacht für die Welt des jetzigen Moments. So kann sich eine Welt zeigen, die sich möglicherweise (selbst) anders darstellt, als der Geher denkt, dass sie sei.
Für einen Augenblick spürt der Geher eine ungeahnte Grenzenlosigkeit, ein Verbunden-Sein und eine Freiheit, die daraus resultiert, dass er sich ganz im jetzigen Moment aufhält.

Die Achtsamkeit ist ein „Projekt ohne Ende“, „Work in Progress“.
Eine Aufgabe im kontinuierlichen Werden und Vergehen.
Praxis, einmal begonnen, ist ohne Ende,
sie begleitet den Praktizierenden das ganze Leben lang.

Achtsamkeits-Übungen:
Dein Leben findet immer nur in diesem jetzigen Moment statt.
– Frage dich immer wieder: Wo bin ich gerade mit meiner Aufmerksamkeit?
– Mache die Dinge vollständig zu Ende.
– Versuche, immer so präzise wie möglich zu handeln.
– Bemühe dich, möglichst alles mit zwei Händen zu tun.
– Jede Aktivität hat einen Beginn und ein Ende
Wann ist deine Aktivität zu Ende?
– Dann erlebe die Pause: Vollende die Dinge und pausiere.
Das Vergangene ist nicht mehr, das Neu ist noch nicht.
– Was ist eigentlich eine Pause?
– Was ist eine gute Geh-Geschwindigkeit?
– Was ist eine gute Arbeits-Geschwindigkeit?
– Was ist eine gute Denk-Geschwindigkeit?

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